Der Schatz der Nibelungen
8. August. Der deutsche Hitzesommer überschreitet seinen Zenit, während das Land in das rot-metallene Licht der germanischen Götterdämmerung taucht: Die Zeit ist reif, da sich der schöngeistige Teil der Gesellschaft nach zwei opferreichen Jahren zurecht verstattet, wieder auf dem Grünen Hügel in Bayreuth des (üblicherweise) jährlich stattfindenen Kultur-Highlights der Wagner-Festspiele teilhaftig zu werden. – Und ausgerechnet in diesem Jahr musste sich der dreitägige Nibelungenzyklus in jeder Hinsicht, inszenatorisch wie darstellerisch, als ein grandioser R(h)einfall entpuppen! Da ist es tunlich, den Blick sogleich abzuwenden und Zuflucht bei einem deutlich herzerfüllenderen Gegenstand aus der Welt Wagners und der alten Helden, weit weg vom Strudel der Gegenwart zu suchen: dem Rheingold.
Nun, möchte man sich in dieser Sache auf die Suche begeben – nicht nach dem Schatz! – nur nach den Plänen der Schatzsucher! – so wird man sehr schnell auf einschlägige Recherche-Portale stoßen, die den Besucher dann auch mit verhältnismäßig offenen Worten zu emfangen wissen:
"Mit der Suche nach diesem legendären Schatz, begibt man sich in das Reich der Mythen und Sagen. Ob der Nibelungenschatz wirklich existiert, lässt sich nicht beweisen, es sei denn, man findet ihn." – Ein Satz, eingerahmt wie über dem steinernen Eingangstor in eine moosverhangene Unterwelt, die in den vergangenen Jahrhunderten die Existenzen schon so vieler Mythenjäger, Kartenpendler und Rutengänger aufgesogen zu haben scheint.
Die Feststellung über die (Nicht-)Existenz des Schatzes dürfte indes nach menschlichem Ermessen unbestreitbar sein. – Aber gilt das auch noch in unserer Zeit? Für den Alephologen? Kann sich ein Prometh des 21. Jahrhunderts damit zufrieden geben, diesen Schatz schon in den eigenen Händen halten zu müssen, nur um seine bloße Existenzfrage geklärt zu haben? – Nein! Wenn dieser Schatz schon nicht als Realobjekt, als res facta, aufzuspüren ist, weder mit Echolot noch mit Wünschelruten (möglicherweise, weil er nicht als ein solches Objekt existert), dann sollte man ihn doch wenigstens in derjenigen Welt, in der er ganz sicher existiert – nämlich in der des Aleph –, als eine res picta, ein Symbol, wiederfinden können. Und – gesetzt den Fall – dieser Bildbefund erweist sich als besonders aufschlussreich, so könnte man auf diese Weise eben doch noch zu einer Existenzaussage kommen! Die Apokalypse des Aleph ist eine vollständige, eine absolute und universelle, in der nichts von dem, was überliefert ist, was nur des Andenkens würdig ist, verloren geht, vom Anfang der Zeiten bis zum Ende. Nicht nur haben wir das für die griechische Mythologie bewiesen, für ihren Götterhimmel, die Theogonie des Hesiod und den Kampf der Titanen, den Geschichtsmythos der fünf Weltalter, für die Sage von Atlantis, die berühmte Erzählung der Pandora und das Schicksal des Prometheus, nein, wir hielten so auch bereits den nordischen Mythos in der Hand (siehe Kapitel 5: Die Goldhörner von Gallehus), von den Urquellen an der Wurzel des Lebensbaums Yggdrasil bis zur weltumspannenden Midgarschlange.
Treten wir einen Schritt zurück, um mehr zu sehen: Das alles beherrschende Element in Novus Ordo ist das des Drachenmythos, der von Urzeiten her überlieferte Sieg über die gottwidrige Macht, dargestellt etwa in dem Duell Marduks gegen Tiamat im babylonischen Schöpfungsmythos, in dem alten indogermanischen Ur-Heldenmythos (siehe Vorlesung 19), durch den „Kampf im Himmel“ nach der jüdischen Überlieferung, den Engelsturz und die Vernichtung des Tieres in der Offenbarung. Zentral ist das Motiv des Drachenkampfes auch in der Nibelungensage! Und damit ist bereits klar: Hier, am „Drachenpunkt“ des Aleph, muss der Ort Fafnirs sein (wie schon der des Fenris-Wolfs), dort, am Prometheus-Punkt, haben auch die Unheil schmiedenden Brüder Alberich und Mime ihr Zuhause. Aber wissen wir nicht noch viel mehr? Der Ring, der Berg, das Versteck, die „enge Pforte“ – all das ist uns aus der Symbolik des Aleph wohlvertraut! Ja, dieser Nibelungenhort scheint sogar ein echter Fortunatus-Schatz zu sein - ein alephologischer Gegenstand erster Klasse! (V 1159: Es war auch nichts anders als Gestein und Gold. Und hätte man die ganze Welt erkauft mit diesem Gold, Um keine Mark vermindern möcht es seinen Werth. Wahrlich Hagen hatte nicht ohne Grund sein begehrt.)
Alles, was wir jetzt zu tun haben, ist die Symbolik des Nibelungenliedes in den Lageplan des Aleph zu übertragen – und dann die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einfach abzulesen!
Die Antwort (kurz gefasst!): Nein, dieser Schatz existert nicht. Das heißt: nicht in dieser Welt! Als Hagen den Schatz auf dem Rhein verschiffte (– der schmale Grat über den Himmelsozean des Aleph entspricht gerade der Kiellinie über den Rhein), und er dann alles mitsamt dem Ring „im Loche“ versenkte (– die Mitte der Himmelsscheibe ist das Loch, der Ring des Nibelungen entspricht natürlich dem Römischen Ring der Sphäre!), da ist dem Dichter wie dem Alephologen klar: Es muss der Schatz im Himmel sein!
– V 1158: Nun mögt ihr von dem Horte Wunder hören sagen: Zwölf Leiterwagen konnten ihn kaum von dannen tragen. In vier Tag und Nächten aus des Berges Schacht, hätten sie des Tages den Weg auch dreimal gemacht. (4 * 3 * 12 = 144 = Aleph-Punkt!).
Der Gesamtbefund scheint alephologisch so klar wie er rein hermeneutisch einleuchtend ist. Wer Heimat und Sinnort dieses Schatzes sucht, findet sie nicht in den Büchern der Geschichtschronisten, sondern genau dort, wo sich, wie in der Edda-Dichtung, Urzeit und Endzeit und damit alles Menschschicksal in einer einzigen apokalyptischen Umarmung befinden. Der Schatz: eine Metapher für das verhängnisvolle Glücksstreben des Menschen im Irdischen, das goldene Gestein: der irdische Abglanz des Himmelreichs. (In der altnordischen Sagendichtung ist der Nibelungenhort nur ein anderes Wort, eine Umschreibung für Gold!). Das verlorene Paradies, der Himmel, ist der Schatz, der in dem Gold nur sein Verdichtungssymbol findet. So nah er uns ist, so unverfügbar. – Wer ihn mit Macht erheischt, dem wird er wenig frommen. Ein Fluch lastet auf ihm. Denn ist der himmlische Schatz nur durch Liebe zu gewinnen, so der irdische durch Haß.
– Die Moral von der Geschicht: Der Mensch will sein Glück und Vollleben mit Macht gewinnen, und wird es so verlieren. Dagegen der Liebende überlässt die Sorge für seinen Schatz den Rheintöchtern, den Woglinden, Wellgunden und Flosshilden, bei denen er besser verwahrt ist.
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Referenzen /Ergänzende Artikel und Videos:
1) Novus Ordo, V 14;17-19;24